Die jüngste Analyse im Fachjournal Earth System Dynamics simuliert 16 globale Klima-Kipppunkte bis 2100 und kommt zu einem beunruhigenden Ergebnis: Im Emissionspfad SSP2-4.5, der den derzeitigen Politiktrends entspricht, beträgt die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, mindestens einen dieser Punkte irreversibel zu überschreiten, bereits 62 Prozent; für neun Elemente liegt das Einzelrisiko über 50 Prozent. Kohlenstoff-Rückkopplungen wie Amazonas-Dieback oder Permafrost-Tau steigern das Gesamtrisiko zwar „nur“ um drei Prozentpunkte, bestätigen aber, dass selbst der vermeintlich moderate Weg hochgefährlich bleibt. esd.copernicus.org
Was Klimakipppunkte so gefährlich macht
Kipppunkte sind Schwellen, an denen sich selbstverstärkende Prozesse entfesseln: Schwindet etwa das arktische Sommermeereis, sinkt die Reflexion und das dunklere Wasser absorbiert mehr Wärme, was das Eis noch schneller schmelzen lässt. Solche Rückkopplungen laufen außerhalb menschlicher Kontrolle und führen zu neuen Systemzuständen, die sich auf ähnlichen Zeitskalen nicht zurückdrehen lassen. Im Gegensatz zu normalen Klimaschwankungen verändert ein gekipptes Element die Rahmenbedingungen für Jahrhunderte bis Jahrtausende und kann Kaskaden in anderen Erdsystemteilen auslösen. Wikipedia
So arbeitete das Forschungsteam
Die Autorinnen nutzten das reduzierte Klimamodell FaIR, koppelte es an konzeptuelle Modelle für Amazonasregenwald und Permafrost und propagierte Unsicherheiten mithilfe eines Monte-Carlo-Ensembles von 100 000 Läufen. Für jedes Kipp-Element definierten sie eine logistisches Schwellenfunktion, die von globaler Mitteltemperatur, Klimasensitivität und interner Verzögerung abhängt. Durch die Netzwerkstruktur lassen sich auch indirekte Vergleiche ziehen und Wahrscheinlichkeiten kombinieren, ähnlich wie bei Ranking-Analysen in der Medizin. ResearchGate
62 Prozent Risiko – Details zum mittleren Szenario
Unter SSP2-4.5 erreicht die mittlere Welttemperatur gegen Ende des Jahrhunderts rund 2,7 Grad über vorindustriell. In diesem Korridor liegt die Wahrscheinlichkeit, drei oder mehr Kippelemente gleichzeitig zu triggern, bei über 55 Prozent. Amazonien weist ein Risiko von 67 Prozent für großflächiges Waldsterben auf, das Westantarktische Eisblech kommt auf 46 Prozent Kollapswahrscheinlichkeit, während das arktische Sommermeereis mit über 95 Prozent praktisch als verloren gilt. esd.copernicus.orgEarth.com
Brennpunkte Amazonas, Westantarktis und Arktis
Das Amazonasbecken speichert heute etwa zehn Jahre globaler CO₂-Emissionen; sein Kollaps würde nicht nur gewaltige Mengen Kohlenstoff freisetzen, sondern auch den südamerikanischen Wasserkreislauf destabilisieren. Die Westantarktis enthält genug Eis, um den globalen Meerspiegel um mehr als drei Meter zu heben, und ihr Rückzug beschleunigt sich bereits durch warmes Ozeanwasser. Verlieren wir das arktische Sommermeereis, verschwindet eine der wichtigsten Klimabremsen, denn Meereis reflektiert bis zu 80 Prozent des Sonnenlichts, offenes Wasser gerade einmal zehn. Newsesd.copernicus.org
Kaskaden und Dominoeffekte
Die Modelle zeigen, dass das Überschreiten einzelner Schwellen Risiken in anderen Systemen hochschnellen lässt. Schmilzt die Westantarktis schneller, erhöht dies den Meeresspiegel, was Küstenökosysteme schwächt, die wiederum weniger CO₂ binden. Ein langsamerer Atlantikstrom könnte den tropischen Regengürtel verschieben und so den Amazonas zusätzlich unter Druck setzen. Solche dominoartigen Wechselwirkungen bedeuten, dass selbst kleine Wahrscheinlichkeitssprünge in einem Element zu exponentiell größeren Gesamtrisiken führen können. studyfinds.org
Unsicherer Mittelweg – warum SSP2-4.5 keine Option ist
Das Ergebnis, dass gerade das „Middle-of-the-Road“-Szenario ein Hochrisikopfad ist, stellt politische Strategien in Frage, die nur auf schrittweise Emissionsminderungen setzen. Die Studie zeigt, dass net-zero-Ziele vor 2050 entscheidend sind, um die globale Erwärmung auf unter zwei Grad zu drücken und das Kipppunkt-Portfolio wesentlich zu entschärfen. Selbst eine 1,9-Grad-Trajektorie halbiert das Risiko im Vergleich zu SSP2-4.5. NESP 2 climate
Ungewissheiten bleiben
Die Schwellenwerte der meisten Kipppunkte basieren auf begrenzten Beobachtungsdaten oder Modellinterpolationen. Prozesse wie die dynamische EisschildInstabilität oder subglaziale Hydrologie sind nur vereinfacht abgebildet. Ebenso können sozioökonomische Entwicklungen die Emissionspfade drastisch verändern. Doch selbst wenn die Parameterbereiche optimistisch gesetzt werden, bleibt das Risiko im mittleren Szenario deutlich oberhalb der fünfzig-Prozent-Marke. esd.copernicus.org
Warum Europa die globale Schwelle spürt
Ein beschleunigter Eisschwund in der Antarktis würde Sturmflutschäden in Nordseehäfen vervielfachen; der Verlust des Amazonas könnte das atlantische Monsunsystem stören und die Sommerdürre in Mitteleuropa verschärfen. Kipppunkte sind daher kein fernes Szenario für andere Regionen, sondern betreffen Nahrungsversorgung, Wassersicherheit und Wirtschaftsstabilität direkt vor unserer Haustür. Axios
Handlungsspielraum bleibt, doch Zeitfenster schrumpft
Die aktuelle Modellierung macht klar, dass jede Verzögerung der Emissionsminderung das Risiko exponentiell erhöht. Technologie und Politik verfügen noch über die Mittel, den Temperaturpfad auf einen sichereren Kurs zu lenken, doch das verbleibende Zeitfenster schließt sich rapide.
Kipppunkte: Wenn das Klima unwiderruflich kippt
Der Begriff Kipppunkt stammt ursprünglich aus der Physik und beschreibt einen Zustand, bei dem ein System nach einer bestimmten Belastung seine Stabilität verliert und in einen neuen Zustand übergeht. In der Klimaforschung steht ein Kipppunkt für eine Schwelle, an der ein Teil des Erdsystems so stark verändert wird, dass der ursprüngliche Zustand nicht mehr wiederhergestellt werden kann, selbst wenn die auslösenden Faktoren – etwa erhöhte Treibhausgasemissionen – später zurückgehen. Diese Veränderungen laufen selbstverstärkend ab und ziehen oft weitreichende Folgen für das gesamte Klimasystem nach sich.
Beispiele für bedrohte Systeme
Besonders gefährdet ist der Amazonas-Regenwald. Als größtes zusammenhängendes tropisches Waldgebiet spielt er eine zentrale Rolle für den globalen Kohlenstoffkreislauf. Sinkt der Niederschlag unter eine kritische Schwelle und steigt die Temperatur, könnten weite Teile des Waldes absterben und sich in eine Savanne verwandeln. Dieser Prozess setzt gewaltige Mengen Kohlenstoff frei, die heute im Pflanzenmaterial gespeichert sind, und beschleunigt so die globale Erwärmung.
Ein weiteres Kippelement ist das arktische Meereis. In den Sommermonaten schrumpft seine Ausdehnung ohnehin, doch mit steigender globaler Mitteltemperatur geht es immer weiter zurück. Der Verlust des weißen Eises, das Sonnenstrahlen reflektiert, führt dazu, dass dunkles Meerwasser mehr Wärme aufnimmt, was den Schmelzprozess beschleunigt – ein klassischer Rückkopplungseffekt. Erreichen wir den Punkt, an dem das Sommermeereis dauerhaft verschwindet, könnte sich die Arktis drastisch erwärmen.
Auch der westantarktische Eisschild gilt als hochgradig instabil. Er liegt größtenteils auf Land unterhalb des Meeresspiegels und wird von warmem Ozeanwasser unterspült. Wird eine bestimmte Schwelle überschritten, könnten große Teile des Eises abgleiten und schmelzen, was den globalen Meeresspiegel um mehrere Meter ansteigen lassen würde. Die vollständige Destabilisierung dieses Eisschilds würde sich zwar über Jahrhunderte hinziehen, wäre aber auf menschlichen Zeitskalen irreversibel.
Unterschiede zu normalen Klimaschwankungen
Im Gegensatz zu natürlichen Klimaschwankungen, die oft langsam und reversibel sind, bringen Kipppunkte fundamentale, unumkehrbare Veränderungen. Während frühere Schwankungen der Erdgeschichte – etwa Eiszeiten und Warmzeiten – von langfristigen astronomischen Zyklen beeinflusst wurden, könnten moderne Kipppunkte innerhalb weniger Jahrzehnte überschritten werden. Das macht sie besonders gefährlich, denn die Anpassungszeit für Ökosysteme, Gesellschaften und Infrastrukturen wäre extrem kurz.
Normale Variabilität, wie etwa jahreszeitliche Temperaturunterschiede oder der Wechsel zwischen feuchten und trockenen Jahren, bleibt innerhalb eines relativ stabilen Rahmens. Kipppunkte verschieben diesen Rahmen selbst. Sie definieren einen Übergang zu einem neuen, oft weniger lebensfreundlichen Zustand, der langfristig nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, selbst wenn die Erwärmung später gebremst oder gestoppt würde.
Warum Kipppunkte systemrelevant sind
Viele Kipppunkte betreffen grundlegende Systeme, die in ihrer Funktion weit über regionale Auswirkungen hinausgehen. Der Zusammenbruch der Atlantischen Meridionalen Umwälzströmung (AMOC), zu der der Golfstrom gehört, würde nicht nur Europas Klima abkühlen, sondern auch den Monsun in Westafrika und Südamerika schwächen. Das Abtauen von Permafrostböden in Sibirien würde zusätzlich Methan freisetzen, ein Treibhausgas, das die Erwärmung noch weiter anheizt.
Solche systemischen Veränderungen könnten Kettenreaktionen auslösen. Kippen mehrere Elemente nahezu gleichzeitig, potenzieren sich die Folgen. Das Überschreiten eines Kipppunktes erhöht somit nicht nur lokal die Risiken, sondern destabilisiert das gesamte Erdsystem in einem Ausmaß, das bisherige menschliche Erfahrung weit übersteigt.
Selbstverstärkung als zentrales Problem
Was Kipppunkte besonders tückisch macht, ist der Selbstverstärkungsmechanismus. Ist ein bestimmter Schwellenwert einmal überschritten, sorgt der Prozess selbst für seine Fortsetzung. Beim Verlust von Wäldern in Amazonien beispielsweise verringert sich die Verdunstung, was die Trockenheit weiter verstärkt und noch mehr Bäume absterben lässt. Diese Spirale läuft unabhängig von weiteren menschlichen Einflüssen ab und macht Gegenmaßnahmen extrem schwierig oder wirkungslos.
Das bedeutet, dass Prävention bei Kipppunkten entscheidend ist. Werden sie einmal überschritten, lässt sich der Prozess kaum noch aufhalten oder umkehren. Deshalb ist das Verhindern des Erreichens solcher kritischer Schwellenwerte eines der wichtigsten Ziele der internationalen Klimapolitik.

Warum es schwer ist, Kipppunkte genau zu bestimmen
Obwohl Wissenschaftler seit Jahrzehnten vor Kipppunkten warnen, bleibt ihre genaue Bestimmung schwierig. Viele der Prozesse sind komplex, basieren auf schwer messbaren Parametern und sind von zahlreichen Wechselwirkungen abhängig. Die Unsicherheit in Modellen ist hoch, weil es an Langzeitbeobachtungen mangelt und viele Rückkopplungsmechanismen noch nicht vollständig verstanden sind.
Zudem reagieren einzelne Systeme unterschiedlich schnell. Manche Kipppunkte, wie das arktische Meereis, könnten innerhalb von Jahrzehnten erreicht werden. Andere, wie das vollständige Abtauen der antarktischen Eisschilde, könnten Jahrhunderte benötigen, obwohl erste Destabilisierungsprozesse bereits jetzt stattfinden. Die Spannweite der Unsicherheiten macht es schwer, präzise Vorhersagen zu treffen, verstärkt aber gleichzeitig die Dringlichkeit, Risiken nicht zu unterschätzen.
Modellstudie: Simulation der Kipppunkte bis 2100
Die neue Modellstudie, veröffentlicht in Earth System Dynamics, untersuchte erstmals systematisch, wie wahrscheinlich das gleichzeitige Überschreiten mehrerer klimatischer Kipppunkte bis zum Jahr 2100 ist. Dabei wurde ein neuartiger Ansatz gewählt, der sowohl bekannte Unsicherheiten der Kipppunktforschung als auch dynamische Rückkopplungseffekte berücksichtigt. Die Ergebnisse liefern eine alarmierende Einschätzung: Selbst unter moderaten Emissionsszenarien könnte eine Kettenreaktion ausgelöst werden, die das Klimasystem irreversibel verändert.
Grundlagen der Modellierung
Das Forscherteam nutzte eine Kombination aus Klimamodellen, Konzeptmodellen für Kipppunkte und statistischen Simulationsmethoden. Grundlage bildete das Emissionsmodell FaIR, das Temperaturentwicklungen in Abhängigkeit von verschiedenen Treibhausgas-Szenarien berechnet. Darauf aufbauend wurden Kipppunkte wie das arktische Meereis, der Amazonas-Regenwald, der westantarktische Eisschild und der Permafrostboden als eigene Module integriert. Für jedes dieser Module definierten die Wissenschaftler Schwellenwerte in Form logistischer Funktionen, die die Wahrscheinlichkeit des Kippens in Abhängigkeit von der globalen Mitteltemperatur beschreiben.
Ein besonderes Merkmal der Studie war die Verwendung von Monte-Carlo-Simulationen. Dabei wurden 100.000 verschiedene Klima-Zukunftsszenarien erzeugt, die Schwankungen in der Klimasensitivität, den exakten Schwellenwerten und anderen Unsicherheiten berücksichtigten. Diese Vorgehensweise ermöglichte es, nicht nur mittlere Erwartungen zu berechnen, sondern auch Wahrscheinlichkeitsverteilungen und Extremrisiken abzuschätzen.
Einbeziehung von Kohlenstoff-Feedbacks
Neben den klassischen Kippelementen berücksichtigte die Studie auch sogenannte Kohlenstoff-Feedbacks. Dazu gehören beispielsweise der Kohlenstoffverlust durch das Absterben des Amazonas-Regenwaldes oder die Methanfreisetzung durch tauenden Permafrost. Solche Rückkopplungen verstärken die globale Erwärmung zusätzlich und können das Risiko weiterer Kipppunkte erhöhen. Die Modelle integrierten diese Feedbacks explizit und quantifizierten deren Einfluss auf die Gesamtwahrscheinlichkeit von Kettenreaktionen im Klimasystem.
Szenarien nach dem SSP-Framework
Zur Analyse verwendete das Team verschiedene Emissionsszenarien aus dem Shared Socioeconomic Pathways (SSP)-Framework des Weltklimarats. Diese Szenarien reichen von SSP1-1.9, das eine ambitionierte Begrenzung der Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius anstrebt, bis zu SSP5-8.5, das ein ungebremstes Wachstum der Emissionen beschreibt. Besonders im Fokus stand SSP2-4.5, ein Szenario, das der derzeitigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung am nächsten kommt und eine Erwärmung von etwa 2,7 Grad bis 2100 erwarten lässt.
Methodische Innovationen
Im Unterschied zu früheren Studien verknüpfte dieses Modell erstmals die Kippdynamik verschiedener Systeme miteinander. Dabei wurde angenommen, dass das Überschreiten eines Kipppunktes die Schwelle anderer Systeme beeinflussen kann. Beispielsweise könnte der Verlust des arktischen Eises die Erderwärmung beschleunigen und so den Druck auf den Amazonas-Regenwald erhöhen. Solche Verknüpfungen wurden in der Modellierung durch dynamische Netzwerkstrukturen abgebildet, die gegenseitige Verstärkungseffekte berücksichtigen.
Eine weitere Innovation bestand in der quantitativen Abschätzung der Unsicherheiten. Statt nur Mittelwerte zu präsentieren, lieferten die Ergebnisse Wahrscheinlichkeitsverteilungen für jede mögliche Entwicklung, was eine differenziertere Risikoeinschätzung ermöglicht. Diese statistische Tiefe macht die Studie zu einem wichtigen Schritt in der quantitativen Bewertung globaler Klimarisiken.
Realismus der Annahmen
Um die Realitätsnähe der Ergebnisse zu gewährleisten, wurden die Modelle mit bestehenden Beobachtungsdaten kalibriert. Für jedes Kippelement wurden historische Entwicklungen und aktuelle Messungen herangezogen, um die Schwellenwerte und Dynamiken so genau wie möglich abzubilden. Dennoch bleiben Unsicherheiten, insbesondere bei schwer messbaren Prozessen wie der Stabilität von Eisschilden oder der Reaktionsgeschwindigkeit tropischer Wälder. Die Autoren betonen, dass ihre Ergebnisse eine konservative Schätzung darstellen, die auf verfügbaren Daten basiert, aber zukünftige Verschärfungen nicht ausschließt.
Stärken und Schwächen des Ansatzes
Die Studie punktet mit einer umfassenden Methodik und einer Vielzahl von Szenarien. Die Integration von Feedback-Effekten und dynamischen Verknüpfungen zwischen Kippelementen erhöht die Aussagekraft gegenüber früheren Modellierungen erheblich. Allerdings bleibt die Genauigkeit der Schwellenwerte ein Unsicherheitsfaktor, ebenso wie die vereinfachte Darstellung komplexer ökologischer Systeme. Trotz dieser Einschränkungen liefern die Ergebnisse robuste Hinweise auf die hohe Wahrscheinlichkeit für das Überschreiten mehrerer Kipppunkte noch innerhalb dieses Jahrhunderts.
Bedeutung der Modellstudie
Mit dieser umfassenden Modellierung liefert die Studie eine eindrucksvolle Risikokarte für das 21. Jahrhundert. Sie zeigt, dass selbst bei moderaten Emissionspfaden die Gefahr von irreversiblen Veränderungen im Klimasystem real und hoch ist. Besonders besorgniserregend ist die Erkenntnis, dass Wechselwirkungen zwischen einzelnen Kippelementen die globale Situation schneller verschärfen könnten als bislang angenommen. Damit liefert die Studie einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Klimadebatte und unterstreicht die Dringlichkeit entschlossener Klimaschutzmaßnahmen.
Ergebnisse: Wie hoch ist das Risiko wirklich?
Die Ergebnisse der Modellstudie zeichnen ein alarmierendes Bild. Selbst unter Annahme eines moderaten Emissionspfades wie SSP2-4.5 steigt die Wahrscheinlichkeit, dass bis 2100 mindestens drei Kipppunkte überschritten werden, auf über 55 Prozent. Die Studie differenziert dabei klar zwischen den einzelnen Kippelementen und analysiert sowohl die individuellen Risiken als auch deren Wechselwirkungen. Dieses differenzierte Vorgehen ermöglicht eine genauere Einschätzung der potenziellen Gefahren für das globale Klimasystem.
Einzelne Kipppunkte und ihre Wahrscheinlichkeiten
Das arktische Sommermeereis weist die höchste Wahrscheinlichkeit für ein Kippen auf. Mit über 95 Prozent ist sein Verlust bis zum Ende des Jahrhunderts nahezu sicher, wenn die globale Erwärmung den prognostizierten Verlauf nimmt. Der Verlust des Eises verringert die Reflexion von Sonnenlicht, erhöht die Aufnahme von Wärme im Ozean und beschleunigt die Erwärmung der Arktis, ein klassischer selbstverstärkender Effekt.
Beim Amazonas-Regenwald liegt die Wahrscheinlichkeit für einen großflächigen Waldverlust bei 67 Prozent. Die zunehmende Erwärmung, in Kombination mit veränderten Niederschlagsmustern und verstärkter Trockenheit, bringt das sensible Ökosystem an den Rand seiner Belastbarkeit. Sollte diese Schwelle überschritten werden, droht nicht nur der Verlust eines der größten Kohlenstoffspeicher der Erde, sondern auch tiefgreifende Veränderungen im regionalen Wasserhaushalt.
Für den westantarktischen Eisschild berechnete das Modell eine Wahrscheinlichkeit von 46 Prozent, dass große Teile bis 2100 destabilisiert werden. Dieser Prozess ist besonders kritisch, da er langfristig einen Meeresspiegelanstieg von mehreren Metern verursachen könnte. Die Erwärmung der darunterliegenden Ozeane greift die Basis des Eisschilds an und beschleunigt sein Abschmelzen.
Risiken durch Überschreitung mehrerer Schwellen
Noch alarmierender ist das kombinierte Risiko, dass mehrere Kippelemente fast gleichzeitig kippen. Die Studie zeigt, dass das Überschreiten eines Elements die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass andere folgen. Wird beispielsweise das arktische Eis vollständig abgeschmolzen, erhöht sich die globale Erwärmung durch die geringere Rückstrahlung, was wiederum das Risiko für das Kippen des Amazonas oder das Abschmelzen antarktischer Eisschilde erhöht.
Das Modell berechnete, dass bei SSP2-4.5 die Wahrscheinlichkeit, dass drei oder mehr Kippelemente betroffen sind, bei 56 Prozent liegt. In Szenarien mit noch höheren Emissionen, wie SSP3-7.0 oder SSP5-8.5, steigt diese Wahrscheinlichkeit auf 74 beziehungsweise 86 Prozent an. Selbst bei einem ambitionierten Klimaschutzpfad wie SSP1-1.9, der eine Begrenzung der Erderwärmung auf unter zwei Grad vorsieht, verbleibt ein Restrisiko von 14 Prozent.
Einfluss von Kohlenstoff-Feedbacks
Ein wesentlicher Aspekt der Studie ist die Berücksichtigung zusätzlicher Kohlenstoff-Feedbacks. Werden beispielsweise große Mengen Methan aus tauendem Permafrost freigesetzt oder Kohlenstoff aus sterbenden Regenwäldern, verstärkt dies die globale Erwärmung unabhängig von menschlichen Emissionen. Diese zusätzlichen Emissionen erhöhen das Gesamtrisiko um bis zu drei Prozentpunkte, ein scheinbar kleiner, aber bedeutender Unterschied, wenn es um globale Stabilität geht.
Vergleich mit bisherigen Schätzungen
Verglichen mit früheren Studien zeigt die aktuelle Modellierung höhere Wahrscheinlichkeiten für das Überschreiten kritischer Schwellen. Frühere Ansätze unterschätzten häufig die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Kippelementen oder ignorierten Kohlenstoff-Feedbacks. Die neuen Ergebnisse basieren auf einer realistischeren Einschätzung der Unsicherheiten und Dynamiken und zeigen deutlich, dass das Klimasystem anfälliger ist, als viele Modelle bislang angenommen hatten.
Interpretation der Wahrscheinlichkeiten
Auch wenn Wahrscheinlichkeiten von 56 oder 67 Prozent nicht zwangsläufig bedeuten, dass das Überschreiten eines Kipppunktes unausweichlich ist, zeigen sie doch, dass es sich um erhebliche Risiken handelt. In anderen Bereichen, wie etwa der Medizin oder dem Katastrophenschutz, gelten Wahrscheinlichkeiten dieser Größenordnung bereits als hoch genug, um sofortige Maßnahmen zu ergreifen. Im Kontext der Klimapolitik unterstreichen diese Zahlen die Dringlichkeit entschlossener Emissionsminderungen und präventiver Schutzmaßnahmen.

Regionale Unterschiede in den Auswirkungen
Die Studie weist darauf hin, dass die Auswirkungen gekippter Elemente nicht gleichmäßig über die Welt verteilt sind. Während der Verlust des arktischen Eises globale Effekte auf die Erwärmung hat, betreffen der Zusammenbruch des Amazonas-Regenwaldes oder der antarktischen Eisschilde bestimmte Regionen besonders stark. Küstenstädte weltweit wären von steigendem Meeresspiegel betroffen, während landwirtschaftlich genutzte Flächen in Südamerika und Afrika unter veränderten Niederschlagsmustern leiden würden.
Zusammenfassung der Kernergebnisse
Die Modellierung zeigt, dass selbst unter einem Szenario moderater Emissionen wie SSP2-4.5 eine realistische Gefahr besteht, dass mehrere klimatische Kippelemente bis zum Jahr 2100 irreversibel überschritten werden. Besonders kritisch sind dabei das arktische Sommermeereis, der Amazonas-Regenwald und der westantarktische Eisschild. Der kombinierte Effekt mehrerer Kippelemente könnte eine Dynamik entfalten, die das globale Klimasystem tiefgreifend und dauerhaft destabilisiert. Diese Erkenntnisse sollten als dringender Weckruf verstanden werden, die Klimapolitik weltweit zu verschärfen.
Kaskaden und Dominoeffekte: Wenn Kipppunkte sich gegenseitig anstoßen
Das Klimasystem der Erde ist ein komplex vernetztes Gefüge, in dem Veränderungen an einer Stelle globale Auswirkungen entfalten können. Die aktuelle Modellstudie zeigt, dass das Überschreiten eines einzelnen Kipppunktes nicht isoliert betrachtet werden darf. Vielmehr besteht eine erhebliche Gefahr, dass gekippte Systeme andere Teile des Erdsystems destabilisieren. Diese Kaskadeneffekte, oft auch Dominoeffekte genannt, könnten eine Dynamik entfalten, die weit über die Summe der einzelnen Risiken hinausgeht und das Klima schneller und stärker verändert, als viele bislang angenommen haben.
Mechanismen der gegenseitigen Beeinflussung
Wenn das arktische Sommermeereis verschwindet, verringert sich die Albedo der Erdoberfläche. Dunkles Meerwasser absorbiert mehr Sonnenstrahlung, wodurch sich die Arktis schneller erwärmt. Diese zusätzliche Erwärmung bleibt jedoch nicht lokal begrenzt. Sie beeinflusst atmosphärische Strömungen, verändert Wettermuster und trägt dazu bei, dass der Permafrost in Sibirien schneller taut. Der tauende Permafrost wiederum setzt große Mengen an Treibhausgasen wie Methan und Kohlendioxid frei, was die globale Erwärmung weiter beschleunigt.
Ähnliche Effekte zeigen sich beim Amazonas-Regenwald. Seine großflächige Abholzung oder das Absterben durch Trockenheit verringert die Verdunstung, die für die Bildung von Regen in der Region verantwortlich ist. Diese Verringerung verstärkt wiederum die Trockenheit und setzt zusätzliche Treibhausgase frei. Die Veränderung der Luftzirkulation durch das Fehlen des Regenwaldes kann zudem Monsunsysteme in Afrika und Asien beeinflussen und die Stabilität anderer Ökosysteme gefährden.
Verstärkende Rückkopplungen
Die Studie betont, dass viele dieser Wechselwirkungen auf sich selbst verstärkenden Rückkopplungen beruhen. Ein einmal in Gang gesetzter Prozess verstärkt die Bedingungen, die ihn ursprünglich ausgelöst haben, was zu einer Beschleunigung der Veränderungen führt. Dieser Mechanismus unterscheidet Kipppunkte fundamental von linearen Prozessen, bei denen Ursache und Wirkung in einem stabilen Verhältnis stehen.
Ein Beispiel für eine solche Rückkopplung ist der Kollaps des westantarktischen Eisschilds. Wenn das Eis schmilzt, steigt der Meeresspiegel. Der höhere Meeresspiegel destabilisiert weitere Eisfronten, da der Druck auf das verbleibende Eis steigt und mehr warmes Wasser in den Untergrund eindringt. Dies beschleunigt das Abschmelzen zusätzlich und könnte langfristig andere Eisschilde, etwa in Grönland, in Mitleidenschaft ziehen.
Multikipp-Risiko und Schwellenunterschreitungen
Die Studie liefert nicht nur Einzelwahrscheinlichkeiten für das Überschreiten von Kipppunkten, sondern untersucht auch, wie das Risiko steigt, wenn mehrere Elemente gleichzeitig destabilisiert werden. Die Ergebnisse zeigen, dass das Multikipp-Risiko deutlich höher ist, als es die einzelnen Wahrscheinlichkeiten vermuten lassen. Sobald ein Kipppunkt erreicht ist, sinkt die Schwelle für andere Elemente, wodurch der gesamte Prozess wahrscheinlicher und schwerer kontrollierbar wird.
Klassische Schwellenwerte verlieren in solchen Situationen ihre Gültigkeit. Kippt ein System, wirkt es wie ein zusätzlicher Treiber für die übrigen Kipppunkte. Das bedeutet, dass Klimaschutzmaßnahmen, die sich nur an durchschnittlichen Schwellenwerten orientieren, die Gefahr unterschätzen könnten. In Wirklichkeit senkt jede zusätzliche Erwärmung nach dem Überschreiten eines Kipppunktes die Stabilität des gesamten Systems.
Bedeutung für globale Klimapolitik
Die Existenz dieser Dominoeffekte hat weitreichende Konsequenzen für die Klimapolitik. Klassische Modelle, die Kipppunkte als isolierte Ereignisse betrachten, unterschätzen die Gefahr großflächiger und irreversibler Veränderungen. Nur durch ein besseres Verständnis der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Kippelementen lässt sich das Risiko realistisch einschätzen und geeignete Maßnahmen ergreifen.
Ein wichtiges politisches Ziel sollte es sein, die Wahrscheinlichkeit solcher Kaskadeneffekte so weit wie möglich zu senken. Das bedeutet, dass der globale Temperaturanstieg nicht nur aus Gründen des Artenschutzes oder der Vermeidung extremer Wetterereignisse begrenzt werden muss, sondern auch, um die systemische Stabilität des gesamten Klimasystems zu bewahren.
Frühwarnsysteme und Überwachung
Die Studie unterstreicht auch die Bedeutung von Frühwarnsystemen. Frühzeitige Anzeichen für das Kippen eines Systems könnten genutzt werden, um noch rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Solche Frühindikatoren sind etwa Veränderungen in der Vegetationsdichte des Amazonas, ungewöhnliche Muster beim Abschmelzen der Gletscher oder Anomalien in der Meereiszirkulation.
Allerdings ist die Vorhersage solcher Schwellen schwierig, da Kipppunkte oft ohne deutliche Vorwarnung überschritten werden. Viele Prozesse laufen schleichend ab, bevor sie abrupt kippen. Daher braucht es eine Kombination aus verbesserter Modellierung, engmaschiger Überwachung und internationaler Kooperation, um diese Frühwarnsysteme effektiv zu gestalten.
Konsequenzen für zukünftige Risikomodelle
Die Erkenntnisse über Kaskaden und Dominoeffekte legen nahe, dass Klimamodelle komplexer werden müssen. Künftige Modellierungen sollten Wechselwirkungen zwischen Kippelementen systematisch einbeziehen und nicht mehr nur lineare Zusammenhänge betrachten. Dazu gehört auch die Integration sozioökonomischer Kippelemente, wie etwa das Verhalten von Energie- und Wirtschaftssystemen auf klimatische Veränderungen.
Nur so lässt sich das gesamte Ausmaß des Risikos realistisch bewerten. Denn die Kettenreaktionen im Klimasystem könnten schnell zu einer Dynamik führen, die existierende Anpassungsstrategien überfordert und die Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen und Gesellschaften massiv schwächt.
Unsicherheiten und Limitationen: Was wir (noch) nicht wissen
Trotz der alarmierenden Ergebnisse der Modellstudie bleiben wesentliche Unsicherheiten bestehen, die die Interpretation der Resultate beeinflussen. Kein Klimamodell kann die Zukunft mit absoluter Genauigkeit vorhersagen, und besonders bei Kipppunkten ist die Unsicherheit naturgemäß hoch. Dennoch bieten die Ergebnisse wichtige Hinweise darauf, wo die größten Risiken liegen könnten. Eine differenzierte Betrachtung der Unsicherheiten hilft dabei, die Bedeutung der Ergebnisse besser einzuordnen und zu verstehen, warum schnelles Handeln trotz wissenschaftlicher Unsicherheiten notwendig bleibt.
Schwellenwerte und Modellvereinfachungen
Ein zentrales Problem ist die Unsicherheit über die exakten Schwellenwerte der Kipppunkte. Diese Werte basieren oft auf theoretischen Überlegungen, begrenzten Beobachtungsdaten oder Modellierungen unter idealisierten Bedingungen. In der realen Welt sind viele Prozesse komplexer und können durch lokale Faktoren wie Bodenbeschaffenheit, Vegetationsmuster oder regionale Klimaphänomene beeinflusst werden. Dadurch können tatsächliche Kippschwellen höher oder niedriger liegen als in den Modellen angenommen.
Zudem arbeiten Modelle notgedrungen mit Vereinfachungen. Sie abstrahieren komplexe ökologische, geophysikalische und klimatische Prozesse, um sie mathematisch beschreibbar zu machen. Diese Vereinfachungen können dazu führen, dass Wechselwirkungen unterschätzt oder übersehen werden. So sind beispielsweise dynamische Prozesse in Eisschilden oder die genaue Reaktionsweise tropischer Wälder auf kombinierte Stressfaktoren wie Temperaturanstieg und veränderte Niederschläge schwer zu modellieren.
Sozioökonomische Unsicherheiten
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die zukünftige Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Die verwendeten SSP-Szenarien basieren auf Annahmen über Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsentwicklung, technologische Innovationen und politische Entscheidungen. Veränderungen in diesen Bereichen können die tatsächlichen Emissionen und damit den Temperaturanstieg erheblich beeinflussen. Politische Maßnahmen wie ein schnellerer Ausbau erneuerbarer Energien oder überraschende technologische Durchbrüche bei der CO₂-Entfernung könnten die Emissionspfade günstiger gestalten als derzeit prognostiziert.
Andererseits könnten wirtschaftliche Krisen, geopolitische Instabilitäten oder ein Scheitern internationaler Klimaschutzbemühungen zu höheren Emissionen führen als in den optimistischen Szenarien angenommen. Diese Unwägbarkeiten machen präzise Vorhersagen unmöglich, erhöhen aber die Notwendigkeit, Klimamodelle kontinuierlich an neue Entwicklungen anzupassen.
Interaktionen und Feedbacks
Viele Wechselwirkungen zwischen Kippelementen sind in der wissenschaftlichen Literatur noch nicht vollständig erforscht. Die aktuelle Modellstudie berücksichtigt einige dieser Interaktionen, etwa zwischen arktischem Eisverlust und globaler Erwärmung, aber viele andere potenzielle Kaskadeneffekte bleiben unklar. Beispielsweise könnten Veränderungen in der Vegetationsdecke die Niederschlagsmuster nicht nur lokal, sondern auch in entfernten Regionen beeinflussen, ein Phänomen, das als Telekonnektion bezeichnet wird.
Zudem existieren Rückkopplungen zwischen natürlichen und menschlichen Systemen. Ein steigender Meeresspiegel könnte nicht nur Ökosysteme bedrohen, sondern auch Migration und politische Instabilität verstärken, was wiederum globale Reaktionen auf den Klimawandel beeinflusst. Solche sozioökonomischen Kippelemente sind bisher kaum modelliert, könnten aber das Risiko globaler Destabilisierung erheblich erhöhen.
Beobachtungsgrenzen und Frühwarnsysteme
Die Überwachung potenzieller Kipppunkte ist technisch und organisatorisch herausfordernd. Viele relevante Prozesse spielen sich in schwer zugänglichen Regionen ab, wie den polaren Eisschilden oder den tropischen Regenwäldern. Satelliten liefern zwar wertvolle Daten, aber deren Auflösung und Zeitreihenlänge sind oft nicht ausreichend, um langsame Veränderungen zuverlässig zu erfassen.
Frühwarnsysteme, die auf kritische Schwankungen oder Trendänderungen hinweisen könnten, stecken noch in den Kinderschuhen. Ohne belastbare Frühindikatoren bleibt die Gefahr groß, dass Kipppunkte unbemerkt überschritten werden, bevor Gegenmaßnahmen möglich sind. Hier besteht dringender Forschungsbedarf, um Indikatoren zu entwickeln, die ein rechtzeitiges Eingreifen erlauben.
Relevanz der Unsicherheiten
Obwohl die Unsicherheiten beträchtlich sind, ändern sie nichts an der grundsätzlichen Risikoabschätzung. In der Risikoforschung gilt der Grundsatz, dass hohe Unsicherheiten nicht als Entwarnung, sondern als zusätzlicher Handlungsanreiz betrachtet werden sollten. Wenn die Konsequenzen potenziell katastrophal sind, rechtfertigt schon eine moderate Eintrittswahrscheinlichkeit entschlossene Gegenmaßnahmen. Das Klimasystem zeigt alle Merkmale eines hochsensiblen, nichtlinearen Systems, bei dem Vorsorge oberste Priorität haben sollte.
Zusammenfassung der Limitationen
Die Modellstudie ist trotz ihrer Einschränkungen ein wichtiger Meilenstein in der Klimaforschung. Sie liefert robuste Hinweise darauf, dass das Risiko für das Überschreiten mehrerer Kipppunkte real und hoch ist, selbst wenn genaue Schwellenwerte und Wechselwirkungen noch Unsicherheiten unterliegen. Gerade weil diese Unsicherheiten existieren, ist schnelles und umfassendes Handeln entscheidend, um die Gefahr irreversibler Veränderungen zu minimieren.

Bedeutung für Politik und Gesellschaft: Was jetzt zu tun ist
Die Ergebnisse der Modellstudie senden ein deutliches Signal an Politik und Gesellschaft. Selbst unter moderaten Emissionsszenarien besteht ein erhebliches Risiko, dass das Klimasystem bis 2100 in einen Zustand gerät, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Diese Erkenntnis sollte als Ansporn dienen, den Kurs zu ändern und konsequent auf eine Stabilisierung des Klimasystems hinzuarbeiten.
Notwendigkeit schneller Emissionsreduktionen
Der wichtigste Hebel zur Vermeidung von Kipppunkten bleibt die drastische Reduktion von Treibhausgasemissionen. Die Studie zeigt klar, dass bereits eine Begrenzung der Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius das Risiko deutlich senken kann. Während im Szenario SSP2-4.5 das Risiko für das Überschreiten von drei oder mehr Kippelementen bei über 55 Prozent liegt, sinkt es im ambitionierteren SSP1-1.9 auf etwa 14 Prozent. Diese Differenz zeigt, dass entschlossene Klimapolitik einen realen Unterschied machen kann.
Schnelle Fortschritte bei der Dekarbonisierung der Energieversorgung, der Elektrifizierung des Verkehrs, der Förderung nachhaltiger Landwirtschaft und dem Schutz von Wäldern sind entscheidend. Jede weitere Tonne CO₂, die nicht emittiert wird, reduziert das Risiko, das Klimasystem unwiderruflich zu destabilisieren.
Schutz und Wiederherstellung von Ökosystemen
Natürliche Ökosysteme spielen eine Schlüsselrolle bei der Stabilisierung des Klimas. Der Erhalt von Regenwäldern, Mooren und Mangroven kann große Mengen Kohlenstoff binden und gleichzeitig wichtige ökologische Funktionen bewahren. Renaturierungsprojekte, die degradierte Landschaften wiederherstellen, tragen nicht nur zum Klimaschutz bei, sondern erhöhen auch die Widerstandsfähigkeit gegenüber klimatischen Veränderungen.
Besonders schützenswert sind Ökosysteme, die selbst Kipppunkte darstellen könnten, wie der Amazonas-Regenwald oder die borealen Wälder Sibiriens. Hier ist internationale Kooperation gefragt, um Schutzmaßnahmen zu finanzieren und umzusetzen.
Frühwarnsysteme und Resilienzstrategien
Der Aufbau von Frühwarnsystemen für potenzielle Kipppunkte sollte Priorität erhalten. Technologische Fortschritte bei Satellitenbeobachtung, Sensorik und Datenanalyse können helfen, kritische Veränderungen frühzeitig zu erkennen. Parallel dazu müssen Anpassungsstrategien entwickelt werden, die Gesellschaften widerstandsfähiger gegenüber den Folgen klimatischer Veränderungen machen.
Dazu gehören der Ausbau von Hochwasserschutz, hitzeresistente Infrastruktur, nachhaltiges Wassermanagement und soziale Sicherungssysteme. Eine resiliente Gesellschaft kann besser mit den unvermeidlichen Auswirkungen des Klimawandels umgehen und bleibt handlungsfähig, selbst wenn Kipppunkte überschritten werden.
Internationale Zusammenarbeit
Kipppunkte kennen keine Landesgrenzen. Ihre Auswirkungen sind global und verlangen eine koordinierte internationale Antwort. Globale Abkommen wie das Pariser Klimaabkommen sind wichtige Schritte, doch ihre Umsetzung muss beschleunigt werden. Finanztransfers an ärmere Länder, technologische Zusammenarbeit und gemeinsame Forschungsinitiativen können dazu beitragen, die globale Erwärmung auf ein möglichst sicheres Maß zu begrenzen.
Eine neue Form der internationalen Kooperation könnte darin bestehen, gezielt Kipppunkte zu adressieren, etwa durch ein global koordiniertes Programm zum Schutz des Amazonas oder zur Stabilisierung des antarktischen Eisschilds. Solche Initiativen erfordern politischen Willen, wirtschaftliche Ressourcen und gesellschaftlichen Rückhalt.
Fazit
Die Modellstudie macht deutlich, dass das Risiko, mehrere klimatische Kipppunkte bis zum Jahr 2100 zu überschreiten, real und hoch ist. Selbst unter moderaten Emissionsszenarien drohen irreversible Veränderungen des Erdsystems. Schnelle und umfassende Emissionsreduktionen, Schutz natürlicher Ökosysteme, Aufbau von Frühwarnsystemen und internationale Zusammenarbeit sind entscheidend, um die Stabilität des Klimas zu bewahren. Die verbleibende Zeit, um das Schlimmste zu verhindern, ist knapp, aber noch nicht abgelaufen. Die Originalstudie finden Sie hier.